‚Malerei ist eine wunderbare Illusion‘
von Sylvia Böhmer
„Malerei ist eine wunderbare Illusion“
Als die amerikanische Künstlerin Helen Frankenthaler ihr Werk mit diesen Worten so anschaulich beschrieb, meinte sie damit vor allem den puren Akt des Malens. Wenn man völlig in diesem Prozess aufgehe, trete die Wahrheit von alleine hervor. Zuvor hatte sich Frankenthaler nach dem Studium der Werke berühmter Zeitgenossen auch von Jackson Pollock und De Koning abgegrenzt, mit deren Stil sie zunächst in Verbindung gebracht wurde. „Meistens will ich einfach nur mit den verschiedenen Bildern experimentieren, die ich von mir selbst habe.“[i]
Auch Hans Esser hat sich in ähnlicher Weise geäußert, hatte aufgesogen, was ihn an künstlerischen Entwicklungen oder Vorbildern faszinierte, um dann später nüchtern zu konstatieren: „viele Einflüsse, keine eigene Richtung“. In der nun hier vorliegenden Zusammenfassung von imposanten 45 Jahren Malerei klingt die in den 1970er Jahren getroffene Feststellung ein wenig kokettierend. Sie war damals wohl eher der Ungeduld des jungen Architekten geschuldet, auf dem künstlerischen Sektor ebenso strategisch und konstruktiv vorankommen zu wollen wie in der Baukunst.
Der Rückblick zeigt nun, mit welcher Sicherheit Hans Esser es verstanden hat, kunsthistorische Inspirationen subtil in sein Werk einzubinden und neu zu interpretieren, um schließlich und sehr konsequent eine eigenständige Position einzunehmen.
Es ist sicher nicht zufällig, dass zwei der frühen Werkreihen sich mit den Fragen von Identität und Existenz auseinandersetzen. War doch auch der junge Maler offensichtlich auf der Suche nach einer Standortbestimmung zwischen Beruf und Berufung.
‚Identity‘ basiert auf der Sammlung von Zeugnissen und Dokumenten, die nachweislich auf einzelne Individuen hinwiesen. Indem Esser diese Schriftstücke im ‚blow up‘ malte, wurden Kunst und Wirklichkeit einander unmittelbar angenähert. Bei den alten ‚Postkarten‘ interessierten ihn nicht die bei Sammlern beliebten Vorderansichten, seine Aufmerksamkeit galt vielmehr den Rückseiten mit ihrem Zusammentreffen von persönlichen Botschaften und amtlichen Stempeln, Knicken, Eselsohren und verwischter Tinte als einzigartige ‚Lebensspuren‘. Das große Format sind ein künstlerischer Eingriff, der die realen Dokumente als Vorlagen nicht verleugnet.
2013 setzte sich Esser mit ‚Akteneinsicht – in memoriam release‘ erneut mit der Bedeutung von Existenz und deren Vergänglichkeit künstlerisch auseinander. Als objets trouvés fungieren nun Aktenordner, die durch Vernichtung ihres Inhalts zur Metapher verloren gegangener Erinnerungen werden und, denen er hier direkt als Malgrund verwendet, eine neue Daseinsberechtigung verliehen hat.
Seit Mitte der achtziger Jahre sind es vor allem die Fragen der Malerei, die Hans Esser beschäftigen und denen er in seinem eigenen Weg bis heute konsequent nachgeht: Linie und Fläche, Farbe und Monochromie, Raum und Oberfläche. Sie sind die Tableaus einer Malerei, auf denen sich die verschiedenen Themen zwischen Abstraktion und Figuration bewegen.
Es gibt lange Schaffensperioden, in denen reduziert zeichenhafte, der Schrift entlehnte Elemente in Essers Bildwelt vorherrschen, dann wieder folgen, teilweise auch parallel, Werkgruppen, die ein ausgesprochen figurativer Stil bestimmt.
1994 richtete sich Esser ein Atelier im belgischen Verviers ein. Neben Gemälden und Tuschezeichnungen entstehen nun auch ‚Holzschnitte‘, Werke, die trotz aller Unterschiedlichkeit in der Formensprache die Auseinandersetzung mit der fernöstlichen Kultur gemeinsam haben.
Esser, vertraut mit der Bildwelt Asiens, stellt dabei unsere westlichen Wahrnehmungserfahrungen auf die Probe. Auch wenn die einzelnen Schriftzeichen ‚lesbar‘ erscheinen, sind sie frei adaptiert und allein ihrer Formschönheit wegen ausgesucht. Unterlegt von Farbflächen treten Geschriebenes und Gemaltes in einen spannungsreichen Dialog.
Schmale, hochformatige Papiere der Kalligraphie werden von Esser um 90 Grad ins Horizontale gedreht. In der nun als ‚Querformate‘ zu verstehenden Reihe entfalten sie eine verblüffend andere Wirkung: Pinselstriche, die mal expressiv dynamisch, mal wie von leichter Hand aufgetragen, Andeutungen einer Gegenständlichkeit, die naturnahe Elemente assoziiert, zunächst geordnet, dann sich wild auf der Fläche austobend. Der Gedanke an bruchstückhafte Momentaufnahmen, möglicherweise auch aus der Natur, drängt sich auf.
Auch die ‚Cut-Outs‘ zeigen, welche Neuinterpretation das Spiel mit dem Bildträger hervorrufen kann. Nicht gedreht wie die ‚Querformate‘ sondern ausgeschnitten aus großformatigen Bildern, besitzen die kleinen ‚Fragmente‘ eine erstaunlich lyrische Qualität. Deutlicher als alle anderen Werke dieser Periode, ja selbst eindrücklicher als die späteren Landschaftsbilder der Lontzener Zeit, sind sie zarte, atmosphärische, an der chinesischen Malerei orientierte Naturansichten par excellence.
Während der Arbeit in Verviers taucht Esser tief in die Geschichte des Kontakts zwischen fernöstlichen und westlichen Kulturen ein und schafft auf diese Weise eine sehr persönliche Berührung von jahrhundertealter Tradition und Gegenwartskunst.
Die im Museum Folkwang Essen gezeigte Ausstellung „Inspiration Japan“ war dann für ihn 2014 abermals Anlass einer Auseinandersetzung mit der asiatischen Kunst, aus der die großformatigen ‚Japanese‘ hervorgingen.
Mit der Einrichtung des großen Ateliers in Lontzen, der Verabschiedung aus dem Beruf des Architekten und der damit gewonnenen Zeit beginnt für Hans Esser 2005 die wohl intensivste Schaffensphase, in der er sich ohne Unterbrechung ganz der künstlerischen Arbeit widmen kann. Die hohe Anzahl der entstandenen Werke und das breite Spektrum an Themen legen davon Zeugnis ab.
Glaubt man den Bezeichnungen der seitdem entstanden Serien, scheint jede für sich eine autarke Position zu beanspruchen. Doch wie bei jedem stringenten künstlerischen Schaffen stellen auch bei Hans Esser die einzelnen Werke untereinander zahlreiche und offensichtliche Zusammenhänge her.
Raster, Balken und Schraffuren, die Titel dreier Bildreihen, werden der lapidaren Definition „Strukturen“ subsumiert. Wer nun die nüchterne Darstellung von Ordnungssystemen oder Technik affinen Formen im Sinne eines künstlerischen Konstruktivismus erwartet, wird schon mit dem ersten Blick auf die Kunstwerke positiv überrascht.
In den „Schraffuren“ zeigen sich gestaffelte und einander durchkreuzende Parallelen von tänzerisch leichten bis hin zu dicht gesetzten Reihen kurzer Linien in fein aufeinander abgestimmter Farbigkeit.
„Raster“ und Gitter werden durch senkrechte und waagerechte Streifen ausgearbeitet. Mal sind die Lineamente zart und schlank, mitunter leicht vibrierend, mal ist der Pinselduktus in breitem Farbauftrag sichtbar. So entstehen farbige Gerüste, die den Blick über einzelne Schichten hinweg in dahinter liegende Bildräume führen.
Die „Balken“ dagegen behaupten sich in direkter Weise und sehr unmittelbar im Vordergrund. Analog zu ihrer ursprünglichen Funktion als tragende Elemente bewegen sie sich kraftstrotzend und kantig auf der Bildfläche, erinnern an die emblematischen und abstrakten Zeichen Paul Klees, die dem Betrachter Spielraum für eigene Imaginationen schaffen.
Figürliches schleicht sich ins Bewusstsein, scheint spontaner Eingebung entsprungen, auch wenn die Werktitel allesamt rein abstrakte Kompositionen suggerieren. Die meist in der oberen Bildhälfte angelegten Kreise assoziieren Augen als Elemente eines Gesichts und bleiben doch reine Formandeutung. Es erstaunt daher nicht, ein den Balken-Bildern sehr verwandtes Motiv als Déjà-vus im Kontext der späteren „Various Heads“ wiederzufinden.
In „Der Expressionist“ markiert eine senkrechte Linie zwei Bereiche. Die Darstellung der rechten Seite zeigt zwei Frauenakte, deren Posen ein Motiv Erich Heckels zitieren. Die mit breitem Pinselstrich gesetzten Chiffren der linken Bildhälfte dagegen wirken zunächst bruchstückhaft und unzusammenhängend, bis der Betrachter auch hier ein Gesicht wie einen Voyeur wahrzunehmen glaubt. Bei „Mein Otto Mueller“ erklärt der Titel selbst den unmittelbaren Bezug zu einem konkreten Vorbild. Sehr subtil verbindet Esser hier die figürliche Darstellung mit der Technik der Schraffuren als Element zur Ausformung des weiblichen Körpers.
Raster, Balken und Schraffuren entstanden über einen langen Zeitraum von zehn Jahren, in denen sich Hans Esser gleichzeitig auch mit anderen Themen wie z.B. ‚Landschaften‘ beschäftigte. Es würde naheliegen, das Phänomen Landschaft etwa mit den Mitteln einer gegenständlichen Malerei zu fassen, doch greift Esser auch hier in einigen Fällen auf die reduzierte Bildsprache seiner ‚Balken‘ zurück und legt sie mit nur wenigen naturnahen Zeichen an. Eine eigene Gruppe innerhalb des Werkblocks bilden die Darstellungen mit der Andeutung eines spitzgiebeligen Hauses. Sie lassen am ehesten konkrete Bezüge auf Landschaft als Ausschnitt eines bestimmten Raumes zu. Die Kontur des „Grünen Hauses“ wiederholt sich in mehreren Bildern, nun flankiert von einem kleineren Gebäude – ausgeführt in zurückhaltender Linienführung in den Zeichnungen mit Kreide und Tusche auf Papier bis hin zur malerischen Verdichtung über die gesamte Bildfläche in „Landscape grünrot“.
Das Charakteristische einer bestimmten Region, das die Landschaftmalerei vielfach kennzeichnet, beschreiben die terrassierten Hänge und flachabfallenden Dächer im mallorquinischen Biniaraix, während das spitzgiebelige Haus als pars pro toto für den Blick auf eine vom Menschen geformte Umgebung steht.
Im weitesten Sinne können auch die zwischen 2007 und 2014 entstandenen ‚Colorfields‘ als Landschaften verstanden werden. Während in der zuvor beschriebenen Werkgruppe die Zeichnung im Vordergrund steht, behauptet sich hier nun die Farbe gegenüber der Form. Einige der ‚Colorfields‘ erinnern mit ihren vertikal bzw. horizontal angelegten Farbfeldern an Landschaftsformationen wie sie in Luftbildaufnahmen erscheinen, bei denen die ungewöhnliche Perspektive ein hohes Maß an Abstraktion hervorruft. Andere Bilder wiederum definieren sich durch breite, fließende, farbdurchtränkte Pinselbahnen, für die es keine Regeln gibt und die Esser allein dorthin trugen, wohin das Bild ihn führte. Wollte man für die ‚Colorfields‘ ein gemeinsames Charakteristikum benennen, dann wäre es: „Die Realität der Farbe“. Diese Malerei bleibt offen und vieldeutig wie der Prozess, der sie hat entstehen lassen.
Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem menschlichen Kopf, die Esser seit 2016 mit den ‚Various Heads‘ verfolgt, verdankt sich dagegen einer konkreten Idee. Als er in einer Pariser Galerie ein ungewöhnlich präsentiertes Objekt entdeckt, war dieser zufällige Fund ein Schlüsselwerk, das die Tür zu einer umfangreichen Werkgruppe aufstieß.
Ursprünglich eine Schale von elliptischer Grundform, erinnert diese an eine afrikanische Maske. Mit nur wenigen hinzugefügten Zeichen entwickelte Esser daraus ein Gesicht bzw. einen Kopf, der in zahlreichen Varianten durchgespielt wird. So betont er in einigen Bildern die besondere Form und die plastische Wirkung seines Fundstücks, deutet auch die Symbolhaftigkeit und den fetischen Charakter einer reellen Maske durch die Hinzufügung eines dritten Auges an. In anderen Fällen wird der ovale Körper regelrecht aufgefächert und in einer Vielzahl von Flächen zur gleichzeitigen Ansicht aus verschiedenen Blickwinkeln geführt. Der Kopf als ein vertrautes Motiv wird vereinzelt als surreales Arrangement verfremdet.
Den Zeichnungen der ‚Various Heads‘ liegt ein eher spontaner Gestus zugrunde, der mit wenigen Strichen und steigenden Rhythmen die Gesichter skizziert. In Schwarz umrissen und mit Grauabstufungen zur Andeutung von Körpervolumen, wird nur bei einigen Ausnahmen ein farbiger Akzent gesetzt: eine grüne Fläche gleicht die strenge Chromatik des einen Bildes aus, während ein pinkfarbener Keil in einem anderen die aggressive Dynamik auf die Spitze treibt. Einige Zeichnungen evozieren die „Maske“ als Bezugspunkt, während andere ‚Köpfe‘ mit nur wenigen, scheinbar hingeworfenen, fließenden Linien oder kantiger Strichführung auf das Äußerste reduziert werden – ein Auge als einzig erkennbare Chiffre des menschlichen Gesichts. Von dem Zwang zum Abbildhaften gelöst und inspiriert von einem „kultischen“ Objekt erreichen die ‚Köpfe‘ einen malerischen und zeichnerischen Ausdruck, der imstande ist, beim Betrachter die verschiedensten Gefühle hervorzurufen.
Bedingt durch den mehrfachen Neuanfang in seiner künstlerischen Arbeit spricht Esser im Vorwort zu diesem Buch noch von „Brüchen, Sprünge, scheinbar wenig Zusammenhang“. Doch aus heutiger Perspektive und im Rückblick auf die Arbeit mehrerer Jahrzehnte sind Beziehungen und Querverbindungen der Werke einzelner Zeitabschnitte wie auch zwischen den großen Blöcken offensichtlich. Und in den ‚Various Heads‘, der letzten großen Werkgruppe werden alle Perioden noch einmal durchgespielt. Aber es sind nicht einfach Wiederholungen, es kommt immer zugleich eine neue Idee, eine Variation der „Klangfarbe“ hinzu. „Im Laufe der Jahre dieser Verortung erlebten sie viele Abenteuer, die in lebhaften Farben beschrieben sind“ – so die Schriftstellerin Olga Tokarczuk über James Cook in ihren Roman über das Reisen „Unrast“.[i]
Eine lineare Chronologie ist nicht das, was sich hier von selbst verstanden hätte. Zugleich ist ihre Abfolge auch kein bloßer Zufall. Nicht ohne Grund nennt HE die hier vorliegende Publikation „Eine Biographie in Bildern“. Seine Kunst ist untrennbar verbunden mit persönlichen Lebenseinschnitten. Brüche sind für einen Künstler aber immer auch eine Chance, sich anders zu definieren, die malerischen Mittel zu wechseln und neue Themen zu verfolgen.
Dass er nach den Unterbrechungen als Maler künstlerisch nicht wieder dort anknüpfen konnte, wo er aufgehört hatte, kommentierte Hans Esser einmal mit Heraklits berühmten Lehrsatz: „Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen“. Doch vielleicht sind es ja gerade die Wirbel und Wellen, die Stromschnellen und Strudel, die diesen Fluss so einzigartig machen.
Sylvia Böhmer
[i] Olga Tokarczuk, Unrast, Kampa Verlag Zürich, 2019, S. 310.
[i] Zitiert nach: Into the Great Wide Open, in Architectural Digest, Dezember/Januar 2015, S. 126-131.